1876
Minna Hermine Paula Becker wird am 8. Februar in Dresden als drittes von sieben Kindern geboren. Ihr Vater, Carl Woldemar Becker (Odessa, 31.1.1841 – Bremen, 30.11.1901), ist Bau- und Betriebsinspektor der Berlin-Dresdner Bahn, später in Bremen Baurat der Preußischen Eisenbahnverwaltung. Ihre Mutter, Mathilde Becker (Lübeck, 3.11.1852 – Bremen, 22.1.1926), entstammt der thüringischen Adelsfamilie von Bültzingslöwen.
1888
Übersiedlung nach Bremen an die Schwachhauser Chaussee 29. Die Familie nimmt regen Anteil am literarischen und künstlerischen Leben der Stadt.
1892
Siebenmonatiger England-Aufenthalt bei der Schwester ihres Vaters, Marie Hill, auf einem Landgut bei London. Erster Zeichenunterricht nach Gipsmodellen in der »St. John’s Wood Art School« bei dem Lehrer Ward.
»Ich habe dort alle Tage Stunden von 10–4 Uhr. Zuerst zeichne ich nur, und zwar ganz einfache Arabesken usw. Mache ich darin Fortschritte, so zeichne ich in Kohle nach griechischen Modellen. [...] Sollte ich noch weiter kommen, so zeichne und male ich nach lebendigen Modellen.« (an die Eltern, 21.10.1892)
1893–95
Auf Wunsch des Vaters Besuch des Lehrerinnenseminars in Bremen; sie legt am 18. September 1895 das Examen ab. Daneben Mal- und Zeichenunterricht bei dem Bremer Maler Bernhard Wiegandt.
»[...], wo ich jetzt so prachtvolle Stunden habe bei Wiegandt. Da muß ich vom lebenden Modell zeichnen, in Kohle. [...] Seitdem zeichne ich mein teures Spiegelbild, [...]« (an Kurt Becker, 26.4.1893)
Im April 1895 Besuch der ersten Ausstellung der Worpsweder Maler in der Bremer Kunsthalle. Sie erwähnt Fritz Mackensen, Otto Modersohn und Heinrich Vogeler.
»Du hörtest gewiß auch von der Haidepredigt, die der eine von ihnen, Mackensen, in einem eigens dafür gebauten Glaswagen, malte. [...] Natürlich alles riesig realistisch aber ganz famos. Das einzige, was ich nicht ganz verstehen kann, ist die Perspektive. [...] Weißt Du, das ganze scheint sich nach unten zu senken, als ob es fiele? Ob das richtig ist und unsere sich verkürzende Perspektive nur etwas künstlich Anerzogenes ist. [...] Sonst interessiert mich noch riesig ein Modersohn. Der hat die verschiedenen Stimmungen in der Heide so schön geschildert, sein Wasser ist so durchsichtig, und die Farbe so eigenartig. Auch ein junger Bremer Vogeler [...] Er malt die ganze Natur nach der vorraphaelischen Zeit ganz stilisiert.« (an Kurt Becker, 27.4.1895)
1896
April/Mai Teilnahme an einem Kurs der Zeichen- und Malschule des 1867 gegründeten »Vereins der Berliner Künstlerinnen und Kunstfreundinnen« in der Potsdamer Straße 38; die Lehrer sind Jacob Alberts und Curt Stöving. Sie wohnt bei ihrer Tante Paula Rabe in der Perleberger Straße 23.
»Vier Nachmittage der Woche gehören meinem Zeichenunterricht, der bildet jetzt den Inhalt meiner Gedanken. [...] Wenn ich mit jemandem spreche, so beobachte ich mit Fleiß, was für einen Schatten die Nase wirft, wie der tiefe Schatten auf der Wange energisch ansetzt und doch wieder mit dem Licht verschmilzt. Dies Verschmelzen finde ich das Schwerste. Ich zeichne noch jeden Schatten zu ausgeprägt, ich bringe noch zu viel Unwichtiges auf das Papier, [...], meine Köpfe sind noch zu hölzern und unbeweglich.« (an die Eltern, 23.4.1896), und »Riesig, riesig schwer! Das Ganze immer im Auge zu behalten, wo man doch zur Zeit immer nur das Einzelne sieht. Ich lebe jetzt ganz mit den Augen, sehe mir alles aufs Malerische an. Wenn ich durch die Potsdamerstraße meinen Weg zur Zeichenschule pilgere, beobachte ich tausend Gesichter, die an mir vorbeikommen, und versuche mit einem Blick das Wesentliche an ihnen zu entdecken. Das ist sehr amusant und ich muß mir oft Mühe geben, nicht laut zu lachen, wenn sich die seltsamsten Gegensätze folgen. Dann versuche ich alles flächig zu sehen, die runden Linien in eckige aufzulösen.« (Tagebuch [?], vor dem 18.5.1896)
Ab Oktober Beginn der eineinhalbjährigen Ausbildung: Porträtklassen von Jacob Alberts und Martin Körte, Aktklasse von Ernst Friedrich Hausmann, Landschaftsklasse von Ludwig Dettmann.
(Diese Berliner Studienzeichnungen sind im Nachlaß fast vollständig erhalten.)
Sie wohnt im Hause des Onkels Wulf von Bültzingslöwen in Berlin-Schlachtensee und nutzt die freie Zeit zum Studium in den Museen.
»Bei den Deutschen und Holbein bin ich jetzt ganz zu Hause, aber Rembrandt bleibt doch der Größte.« (an die Eltern, 23.4.1896)
Im Sommer, auf Einladung ihrer Tante Marie Hill, Reise nach Hindelang mit Station in München zum Besuch der Pinakothek und der Schackgalerie.
1897
Im Februar Eintritt in die Malklasse von Jeanna Bauck, sie malt überwiegend Porträts.
»Ich habe die Landschaftsstunden aufgegeben und arbeite nun die ganze Woche Porträt. Ich bin in der Malklasse, die außer mir noch die fünf tüchtigsten Porträtmädchen enthält. Ich will natürlich noch zeichnen, denn das sehe ich an den begabten Mitschülerinnen, wie es bei ihrem Malen oft noch beim Zeichnen hapert. Das mochte sich Fräulein Bauck auch gedacht haben und so läßt sie ganz einfach und energisch uns alle zeichnen.« (an die Eltern, 5.3.1897), und »Ich liebe die Ölfarben. Sie sind so saftig und kräftig, es arbeitet sich herrlich damit nach dem schüchternen Pastell. [...] Bei Hausmann habe ich gestern auch in Öl angefangen. Er läßt ganz anders arbeiten als Jeanna Bauck. Während diese das höchste Licht als Norm annimmt und von da in den Schatten arbeiten läßt, geht Hausmann vom Schatten aus. Je tiefer Du den einsetzest, um so heller muß auch das Licht sein. Rembrandt erzielte doch so kolossale Lichterfolge, das kam von der Tiefe seiner Schatten. Die lebende Haut hat aber im Licht so etwas Blendendes, Leuchtendes, daß man sie gar nicht hell genug angeben kann.« (an die Eltern, 14.5.1897)
Sie besucht häufig die Kunstausstellungen bei Schulte, Gurlitt sowie Keller & Reiner, wo in diesem Jahr eine Munch-Ausstellung gezeigt wird. Im Kupferstichkabinett sieht sie die Zeichnungen Michelangelos und Botticellis Illustrationszeichnungen zu Dantes »Göttlicher Komödie«. Sie entwirft Titelblätter für die Zeitschrift »Jugend«, die jedoch nicht gedruckt werden. Von Ende Juli bis Ende August erster Worpswede-Aufenthalt zusammen mit der Malfreundin Paula Ritter.
»Heute habe ich mein erstes Pleinairporträt in der Lehmkuhle gemalt. Ein kleines, blondes, blauäugiges Dingelchen. Es stand zu schön auf dem gelben Sand. Es war ein Leuchten und Flimmern. Mir hüpfte das Herz. Menschen malen geht doch schöner als eine Landschaft« (an die Eltern, Worpswede, August 1897), und »Am Morgen malte ich einen alten Mann aus dem Armenhaus. Es ging fein. Er saß wie ein Stock mit dem grauen Himmel als Hintergrund.« (an die Eltern, Ende August 1897)
Anfang Oktober Reise nach Dresden zur »Internationalen Kunst-Ausstellung«, an der u.a. Monet, Pissarro, Simon und Sisley, Böcklin, Hodler, Kalckreuth, Klinger, Leibl, Liebermann aber auch die Worpsweder beteiligt waren; von Meunier wurde eine umfangreiche Sonderausstellung gezeigt. Zum Semesteranfang Ende Oktober beteiligt sie sich mit einigen Arbeiten an der Ausstellung der Malschule.
»Das Neueste vom Neuen ist die heutige Eröffnung unserer Schulausstellung. [...] Man schleicht unruhig durch die Säle, verstohlen rechts und links blickend, mit dem schlechten Gewissen eines Verbrechers. Endlich, der Schreck! Man hat seine Schmerzenskinder entdeckt und eilt schleunigst davon, um Nachstellungen zu entgehen. Gerade so ging es mir. Die eine Wand konnte ich mit Ruhe besehen, dann fiel mein Blick auf Rieke Gefken und die roten Lilien und ich eilte davon...« (an die Eltern, 28.10.1897).
Anfang Dezember reist sie nach Wien zur Hochzeit ihrer Cousine Lily Stammann mit dem Bildhauer Carl Bernewitz. Besuch der Museen und der Liechtenstein-Galerie. Sie nennt Moretto, Tizian, Rubens, Dürer, Cranach, Holbein, Leonardo, van Dyck.
1898
Fortsetzung des Studiums in Berlin. Im März/April besucht sie die Ausstellung von Künstlerlithographien im Lichthof des Kunstgewerbemuseums, in der u.a. Arbeiten von Liebermann, Klinger, Menzel, Thoma, Puvis de Chavannes, Carrière, Fantin-Latour, Manet, Meunier, Pissarro, Redon, Renoir, Sérusier, Signac, Toulouse-Lautrec, Vallotton und Munch gezeigt werden. Sie sieht bei Gurlitt Bilder von Rippl-Rónai und bei Schulte die der »Elfer«, Vorläufer der Berliner Secession, u.a. mit Liebermann, Alberts, von Hofmann und Klinger, namentlich erwähnt sie Leistikow. Im April auf einer Reise nach Leipzig Besuch in Klingers Atelier. Ende Mai ist die Berliner Studienzeit beendet.
Im September Übersiedlung nach Worpswede.
An ihre Tante Cora von Bültzingslöwen schreibt sie an ihrem ersten Worpsweder Abend:
»Ich genieße mein Leben mit jedem Atemzug und in der Ferne glüht, leuchtet Paris. Ich glaube wirklich, daß mein stillster, sehnlichster Wunsch sich verwirklichen wird.« (7.9.1898)
Fritz Mackensen, der bereits Clara Westhoff und Marie Bock als Schülerinnen angenommen hatte, unterrichtet sie. Es entstehen lebensgroße Kohle- und Rötelzeichnungen.
»Mackensen kommt alle paar Tage und gibt eine famose Korrektur.« (Tagebuch, 18.10.1898) Ottilie Reylaender erinnert: »[...] die große angefangene Aktstudie stand auf der Staffelei. Mackensen korrigierte sie und fragte mit durchdringendem Blick, ob sie das, was sie da gemacht habe, wirklich so in der Natur sähe. Merkwürdig war die Antwort: ein schnelles ›Ja‹ und dann zögernd ›Nein‹, indem sie in die Ferne schaute.« (Ottilie Reylaender-Böhme, in: Hetsch 1932, S. 34)
Freundschaft mit der Bildhauerin Clara Westhoff.
1899
Neben den lebensgroßen Modellzeichnungen füllen sich ihre Skizzenbücher mit Landschaftszeichnungen, Figurenstudien und Kompositionsentwürfen. Erste Bilder entstehen sowie eine Reihe Radierungen, die sie auf der Handpresse auf Vogelers Barkenhoff abzieht. Daß sie Worpswede nur als einen weiteren Studienaufenthalt auf ihrem Weg betrachtet, zeigt ein Brief an die Eltern:
»Ich glaube, ich werde mich von hier fortentwickeln. Die Zahl derer, mit denen ich es aushalten kann, über etwas zu sprechen, was meinem Herzen und meinen Nerven naheliegt, wird immer kleiner werden.« (12.2.1899)
Für die anatomischen Studien zu den Aktzeichnungen hat sie ab Juni in ihrem Atelier ein Skelett. Sie liest viel, neben älterer Literatur vor allem Jacobsen und Ibsen. Im August reist sie mit ihrer Tante Marie Hill in die Schweiz, der Rückweg führt sie über München, Nürnberg und Leipzig, wo Clara Westhoff bei Klinger arbeitet, nach Dresden zur »Deutschen Kunstausstellung«, an der die Worpsweder mit 22 Bildern beteiligt sind. Im Dezember stellt sie zusammen mit Marie Bock und Clara Westhoff einige Studien in der Bremer Kunsthalle aus, die von dem Maler und Kritiker Arthur Fitger vernichtend rezensiert werden (WV 40, 41).
»Unsere heutigen Notizen müssen wir leider beginnen mit dem Ausdrucke tiefen Bedauerns darüber, daß es so unqualificirbaren Leistungen wie den sogenannten Studien von Maria Bock und Paula Boecker [sic!] gelungen ist, den Weg in die Ausstellungsräume unserer Kunsthalle zu finden, ja daß man ihnen ein ganzes Cabinet eingeräumt hat, aus dem zuvor die gewöhnlich dort befindlichen Schätze unserer ständigen Sammlungen entfernt worden sind.« (Weser-Zeitung, Bremen, Mittagsausgabe, 20.12.1899)